Heilbronner Stimme vom 30.05.2000

Theater muss Anstößiges bieten dürfen

Gespräch mit Heilbronns Intendant Klaus Wagner über die Solidarität und die Angst seiner Kollegen

 

Haben Sie in Berlin mit Pavel Fieber und Ansgar Haag gesprochen?

Klaus Wagner : Natürlich. Ich habe mein Entsetzen und meine Entrüstung zum Ausdruck gebracht.
Es ist schlimm, dass Kollegen, die seit Monaten auf Solidarität mit uns angesprochen werden, aus strategischen Vorsichtsüberlegungen kein Angebot machen. Ungleich schlimmer ist es, wenn sie ein Angebot machen und es dann wieder zurückziehen.
Denn damit bringen sie zum Ausdruck, dass deutsche Theater erpressbar sind durch Fundamentalisten, Faschistoide oder christlich sich gebärdende Hinterwäldlerei. Herrn Fieber habe ich gesagt, dass bei der Frage, ob "Die lustige Witwe" zu sichern ist, ein Intendant einem Gastspiel wie "Corpus Christi" Vorrang geben muss.
Die Operette hätte er verschieben können. Und dass Fieber, der als Jude in seiner Jugend unter dem faschistischen Mob gelitten hat, eigentlich der Mann wäre, der sich vom gleichen Mob nicht ins Bockshorn jagen lassen darf.

Was meinen Sie mit gleichem Mob?

Wagner : Leute, die Unkenntnis zur Waffe machen, weil sie sich über die Sachverhalte nicht informieren wollen wie die christlichen Protestler um Pfarrer Pietrek. Menschen, die früher ihre Gewaltphantasien gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen ausgelebt haben, würden heute, wenn das gesellschaftliche Klima ähnlich wäre, das gegenüber dem Theater auch tun.

Glauben Sie, dass dieses gesellschaftliche Klima sich dorthin entwickelt? Dass Nichtwissen immer salonfähiger wird, siehe Zlatko?

Wagner : Ich glaube, das Bekenntnis dazu nimmt zu. Proleten hat es immer gegeben.
Aber dass man stolz darauf ist, nichts zu wissen und wissen zu wollen, das nimmt gewaltig zu. Es wird von den Medien verstärkt und kriecht aus den Löchern, in denen es lange verborgen war.
Ich glaube, diese Tendenz wird nicht stärker, aber deutlicher.

Und die christlichen Protestler, wie sie Pietrek selbst nennt?

Wagner : Ich meine, dass faschistoide Gewaltbereitschaft ein Merkmal der innersten Überzeugung vieler Christen ist. Sie sind stolz, sagen zu können, dass sie die religiösen Werte verteidigen müssen.
Was sie aber meinen, sind nicht die religiösen Werte, sondern ihre Bilder, die sie allen überstülpen wollen.

Nach der Absage des Ulmer Theaters hat das kleine Ulmer Akademietheater der Akademie für Darstellende Kunst Ihr Ensemble zu einem Gastspiel eingeladen. Wie beurteilen Sie die Ulmer Situation?

Wagner : Es ist ein ungeheuerlicher Vorgang, dass eine Gemeinderatsfraktion den Intendanten mit der Erpressung, Geld für den Etat zu verweigern, zu einer Spielplanänderung zwingen will. Das gab es seit 1945 nicht mehr.
Der Ulmer Kulturdezernent, der zugleich Vorsitzender des Landesverband des Deutschen Bühnenvereins ist, ist von der Entscheidung des Intendanten Ansgar Haag abgerückt und hat erklärt, dass er zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht in Ulm war und nicht informiert wurde. Der Ulmer Verwaltungsdirektor versichert, dass er nicht in Ulm war und nicht informiert wurde.
Wenn ich die Mitglieder der CDU-Gemeinderatsfraktion befragen würde, die vom OB die Absetzung des Stücks forderten, würden sie sagen, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht in Ulm waren und nicht informiert wurden.

Und Ansgar Haag selbst?

Wagner : Er bestreitet nicht, dass eine Entscheidung zugunsten von "Corpus Christi" Mut erfordert, den er nicht hat. Die " Südwestpresse" hat ihm deshalb bescheinigt, dass ein Mann, der diesen Mut nicht aufbringt, als Intendant nicht geeignet ist.

Jürgen Flimm, der Präsident des Deutschen Bühnenvereins, hat in Berlin zur Solidarität mit dem Heilbronner Theater aufgerufen. Haben Sie denn schon Angebote von weiteren Theatern?

Wagner: Wir haben Anfragen von mehreren großen Theatern und bereits ein Gastspiel im Juli am Nationaltheater Weimar fest verabredet. Das Staatstheater Kassel will für Karlsruhe einspringen.
Da müssen wir noch die Details klären. Auch Jürgen Flimm hat sich an die eigene Brust geklopft und überlegt, ob er nicht durch ein "Corpus Christi "-Gastspiel am Hamburger Thalia Theater ein Beispiel geben will.

Wie steht es mit Pforzheim, Tübingen und Freiburg? Stehen oder wanken sie? In Freiburg hat ein kommunaler CDU-Politiker schon ein Aufführungsverbot gefordert.

Wagner : In Berlin habe ich mit den Kollegen gesprochen. Vom Pforzheimer Intendanten Ernö Weil weiß ich, dass er mit den Herren Fieber und Haag telefoniert hat und sie fragte, ob sie bei der Stange bleiben.
Beide bejahten dies, und Haag erklärte, die Kartennachfrage sei enorm. Jetzt steht Weil allein da.

Empfinden Die Genugtuung über das bundesweite Echo?

Wagner : Der eigentliche Erfolg sind die Vorstellungen in Heilbronn. Ich bin den Heilbronnern dankbar, dass sie mit Zuspruch und Zustimmung zur Aufführung zum Ausdruck gebracht haben, was eigentlich ein Stadttheater legitimiert.
Das gilt auch für die Verwaltungsspitze und den Gemeinderat. Flimm hat in Berlin Martin Luther zitiert: Theater muss Anstößiges bieten dürfen, denn sonst dürfte man auch nicht in der Bibel lesen.

30.05.2000