Heilbronner Stimme vom 26.02.2000

Corpus Christi - Kommentar

Ahnungslos

Waren es Bibeltreue und fundamentalistische Christen, oder Muslime, die die feige Bombendrohung gegen das Theater Heilbronn ausgesprochen haben? Oder waren es Journalisten und Kamerateams, die, wenn sie schon mal in die Provinz angereist sind, auch gern knackige Bilder und Geschichten von der Räumung des Hauses am Berliner Platz mitnehmen wollen? War es etwa das Theater selbst, um bundesweite Medienaufmerksamkeit zu provozieren, oder war es ein durchgeknallter Trittbrettfahrer, der sein kleines Ego aufwertet und sich für einen Abend zum "Chef" von fast 800 Menschen aufspielt? Spekulationen machen Spaß, aber die Sache ist zu ernst. Nein, es war kein Marketing-Gag, denn das Stück ist permanent ausverkauft und nur wegen dieser Nachfrage noch auf dem Spielplan. Und die Medienaufmerksamkeit war schon durch die Unterschriftenaktion geweckt. Die Beter und Mahnwachler müssen sich gefallen lassen, dieser jüngsten Eskalation den Boden bereitet zu haben. Die Amtskirchen müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, zu spät (evangelische) beziehungsweise gar nicht (katholische) Stellung genommen zu haben. Hatten sie dies gleich im Oktober getan, wäre vielleicht der mit Argumenten arbeitende, gerechtfertigte christliche Protest gegen das Stück kanalisiert worden und wäre nicht in den brodelnden fundamentalistischen Sumpf hineingelaufen. "Es gibt ein Buch, das viele, die es auswendig wissen, nicht kennen", hat Marie von Ebner-Eschenbach in ihren Aphorismen über die Bibel geschrieben. Das Erschreckende an der jüngsten "Corpus Christi"-Eskalation ist, dass bewusstes Nicht-Wissen wieder hoffähig geworden ist. Ahnungslosigkeit, gepaart mit dem Anspruch auf die Meinungsführung.

Andreas Sommer