taz vom 28.06.2000

Neue Bilder für die Bibel

Den Dorn im Auge des Gegenübers sehen, nicht den Balken im eigenen: McNallys umstrittenes "Corpus Christi" auf Kampnagel

Nun also auch in Hamburg. Nachdem es in Ulm, Karlsruhe und Pforzheim zu massiven Protesten gekommen war und das Gastspiel des Heilbronner Theaters mit Corpus Christi abgesagt wurde, hat nun auch Hamburg seine Protestschreiber, eine Gruppe von Christen der "Evangelischen Allianz Hamburg", die in einem Brief an Bürgermeister Ortwin Runde (SPD) und die parteilose Kultursenatorin Christina Weiss formulieren: "Dieses blasphemische Stück verletzt die religiösen Gefühle vieler Christen." Stein des Anstoßes: die von Solidarität getragene Einladung von Kampnagel, Thalia Theater und den Kammerspielen an das Stadttheater Heilbronn, die umstrittene deutschsprachige Erstaufführung von Terrence McNallys Stück Corpus Christi auf Kampnagel zu zeigen.

Der amerikanische Erfolgsautor McNally, bekannt für das preisgekrönte Stück Liebe! Stärke! Mitgefühl! und Meisterklasse über das Leben der Maria Callas, erzählt darin die Geschichte von Jesus Christus mit heutigen Bildern und stellt ihn und seine Apostel als lebensfrohe Schwule dar - die Protestierer dagegen sehen sie als ausschweifende, vulgäre Säufer.

Jürgen Flimm hat die Einladung nach Hamburg angeregt. Ludwig von Otting vom Thalia Theater will gegen "Homosexuellenjäger und religiöse Eiferer" ein Zeichen setzen.Vehement wehren sich alle drei Hamburger Intendanten gegen eine Bestimmung darüber, wo die Freiheit der Kunst aufhöre. Für Klaus Wagner, den Intendanten des Stadttheaters Heilbronn ist Terrence McNally ein homosexueller Katholik, der sich aus der Religion ausgegrenzt fühlt und aus dieser Not heraus das Stück geschrieben hat: "Keineswegs soll hier die Religion an den Pranger gestellt werden, vielmehr folgt das Stück der Bibel, beschreibt sie in neuen Bildern."

Die meisten Protestler kennen das Stück nicht, und wollen es auch nicht kennen. Es hagelte Protestschreiben, Bomben- und Morddrohungen einzelner und religiöser Gruppen. Per Gerichtsurteil ist offiziell bestätigt, dass das Stück weder Gotteslästerung enthält noch als jugendgefährdend einzuschätzen ist. Kampnagelintendant Res Bosshart reagiert gelassen auf die Frage nach einem großen Polizeiaufgebot zum Schutze der Vorführung.

Jesus heißt in dem Stück Josua, ist ein junger Amerikaner, der mit typischen Problemen eines Heranwachsenden wie dem College-Abschlussball und dem ersten Kuss zu kämpfen hat, und er ist ein Außenseiter. Durch die Begegnung mit Judas, der sich in ihn verliebt, entdeckt Josua seine Homosexualität, erkennt zugleich, dass er alle Menschen liebt. Die ihm folgenden Jünger sind gewöhnliche Anwälte oder Masseure.

Mit Hilfe der Chiffre des Homosexualität wird die Radikalität einer Persönlichkeit verdeutlicht, die ins Außenseiterdasein führen kann, oft verehrt wird und auch mal im Tode endet. Eine sozusagen realistische Umsetzung des Bibelstoffs und der Anspruch theatraler Kunst, die wie hier symbolhafte Zuspitzung will, liegen da selbstverständlich denkbar weit auseinander.

Annette Stiekele