Die Welt vom 30.06.2000 (?)

Bibel als Waffe gegen Andersdenkende

-Gastbeitrag-

Von Werner Schneider-Quindeau

Der Pfarrer und Filmbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, äußert sich zum Vorwurf der Gotteslästerung, die McNallys Jesus-Stück angeblich prägt.

Evangelikale und fundamentalistische Christen mobilisieren ihre Anhänger, um gegen "Corpus Christi" zu protestieren. Die Bibel wird zur Waffe gegen Andersdenkende, und mit dem Verweis auf die Verletzung religiöser Gefühle werden die Freiheit der Kunst und die moralische Integrität des Theaterstücks in Verruf gebracht. Der Intendant des Kasseler Staatstheaters und seine Familie wird von religiösen Fanatikern an Leib und Leben bedroht, weil Gotteslästerung offensichtlich todeswürdig ist. Für mich wird durch diese vermeintlichen Christen mit ihrem blinden Wahn Gott gelästert. Sie verletzen meine religiösen Gefühle, indem sie Kinder mit Kerzen in den Händen für ihren Protest missbrauchen und indem sie aus der biblischen Einladung zum Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit in irrwitziger Selbstgerechtigkeit eine Kampfparole gegen Homosexuelle und gegen das Theater machen, die blind und taub ist gegenüber allen Fragen, die das Stück stellt.

Selbstverständlich spitzt das Theater die Fragen nach Toleranz und Liebe zu, will das Publikum mit provozierenden Darstellungen zum Nachdenken herausfordern und die Bedeutung der Jesusgeschichte auch im Kontext homosexueller Lebensformen betonen. Das Stück ist ein anrührender, gelegentlich naiver Versuch, die Geschichte Jesu auf dem Hintergrund der Erfahrungen einer Gruppe Jugendlicher aus Corpus Christi in Texas, die in den fünfziger Jahren aufgewachsen sind, neu zu erzählen.

Leitmotiv der Inszenierung ist die Frage, wie sich das Verhältnis Jesu zu seinen Jüngern als einer Gemeinschaft von Schwulen darstellen lässt. In einer Mischung aus Männershow und Passionsspiel wird ein menschenfreundlicher Jesus entworfen, der gerade auch für das Recht auf eine homosexuelle Lebensform eintritt. Der Verrat des Judas, die Verleugnung des Petrus, die Verspottung und schließlich die Kreuzigung Jesu werden als Motive bibeltreu rezipiert, um die enttäuschte Liebe und den Hass gegen die Anderen in Gestalt der Homosexuellen darzustellen. Die am Anfang des Stücks unter den Jugendlichen verbreitete "obszöne" Sprache verwandelt sich im Laufe der Handlung immer stärker zu einer Sprache gegenseitigen Respekts. Die gegen Diskriminierung und Verachtung gerichtete Botschaft des Stücks ist unmissverständlich und hat mit Gotteslästerung überhaupt nichts zu tun. Jesus hätte mit dem menschenfreundlichen Geist dieses Theaterstücks erheblich weniger Probleme gehabt als mit der Selbstgerechtigkeit selbsternannter Rechtgläubiger. Zur Freiheit eines Christenmenschen gehört es, dass er um die Begrenzung aller Jesusbilder weiß und nach dem Geist existierender Jesusbilder fragt.

Einige Filme sind in den letzten 20 Jahren von konservativen Kreisen in den Kirchen zum Gegenstand des Protestes geworden, weil in ihnen auf mehr oder weniger gelungene Art und Weise nach der Bedeutung Jesu für den individuellen Glauben und das gesellschaftliche Zusammenleben gefragt wurde. Ob die Religions- und Kirchenkritik in Achternbuschs "Das Gespenst" oder Schröters "Das Liebeskonzil" oder die Aktualisierung der Jesusfigur in Arcands "Jesus von Montreal": Immer wurden die religiösen Gefühle bestimmter christlicher Kreise verletzt, die für sich in Anspruch nehmen, allein religiöse Gefühle definieren und reklamieren zu können.

Diesem Alleinvertretungsanspruch gilt es von Seiten der Kirchen und der Politik entschieden entgegenzutreten. Es geht im Streit um "Corpus Christi" nicht nur um die Freiheit der Kunst, sondern auch um die Freiheit des Glaubens. Man kann mit Recht gegen Theateraufführungen protestieren, wie es seinerzeit bei der Aufführung von Faßbinders "Der Müll, die Stadt und der Tod" in Frankfurt der Fall war.

Die jüdische Gemeinde hat sich aus guten Gründen gegen die Inszenierung antisemitischer Stereotypen gewandt. Wo Diskriminierung und Verfolgung bestimmter Gruppen in Schrift und Bild ins Szene gesetzt werden, da gilt es energisch Protest anzumelden. Dies ist aber bei "Corpus Christi" nicht der Fall. Im Gegenteil: Die homosexuelle Gemeinschaft der Jünger imaginiert einen Raum der Achtung gegenüber allen Menschen, der gerade Homosexuellen in unserer Gesellschaft immer wieder verwehrt wird. Zum Beispiel durch gotteslästerliche und menschenfeindliche Kampagnen scheinbar "bibeltreuer" Christen. Ihrem menschenverachtenden und freiheitsfeindlichen Ungeist sollten Kirchenleitungen entschieden widersprechen, sich auf diese Weise als überzeugende Anwälte der Freiheit der Kunst und des christlichen Glaubens erweisen.