Heibronner Stimme vom 16. September 2000

Die unbesiegbare Macht der Gefühle

Von Andreas Sommer

Eine teure Wohnung mit Stilmöbeln und knisterndem Kaminfeuer. Mendy und Stephen hören Platten von Maria Callas und raten dabei, an welchem Tag, an welcher Oper und mit welchen Partnern die 1977 im Alter von 54 Jahren verstorbene Operndiva die Aufnahme eingespielt hat. Mendy und Stephen sind schwul und bedingungslose Anhänger des in der Homosexuellen-Szene weit verbreiteten Callas-Kults. Stephen hat später noch eine Verabredung, während sein Partner Mike mit seinem neuen Freund Paul die Nacht in Stephens und Mikes schicker 1985er-Designer-Wohnung (authentische Ausstattung: Florian Parbs) verbringen wird. Für Mendy wird die Aufnahme der "Lissabonner Traviata" mit der Callas vom 27. März 1958, die er noch nicht kennt, zur fixen Idee.

Aus dieser Konstellation heraus entwickelt der amerikanische Autor Terrence McNally eine intelligente Komödie, die im zweiten Akt in einer Tragödie wie in "Carmen" gipfelt. Der Hamburger Regisseur Johannes Kaetzler macht aus der "Lissabonner Traviata" des Autors, dessen Stück "Corpus Christi" in der Heilbronner Inszenierung für bundesweites Aufsehen sorgte, mit seiner flüssigen, temporeichen Inszenierung einen ebenso amüsanten wie hintersinnigen Theaterabend, nicht nur für Opernfans. Das Premierenpublikum beklatschte den gelungenen Spielzeit-Auftakt am Donnerstagabend ausdauernd.

McNallys Stück wartet mit Milieukenntnis, gescheiten Dialogen und Pointensicherheit auf. Der spielerische Umgang auch mit ernsten Themen entspricht der typischen Haltung der amerikanischen Großstadt-Intelligenz, eine Weltsicht, die Susan Sontag mit dem Begriff "camp" belegte. Kaetzler entgeht der Gefahr, einen grell überdrehten Tuntenball auf die Bühne zu bringen, sondern legt eine unterhaltsame, behutsame Studie von vier Homosexuellen vor, die auf der Suche nach Liebe sind und - zumindest die älteren - große Angst vor dem Alter und der Einsamkeit haben.

Letzteres mag ein besonderes Schwulen-Problem sein, die Thematik indes trifft auf jede andere menschliche Beziehung ebenso zu.

Getragen wird der Abend von einem ausgezeichneten Schauspielerensemble. Rolf Rudolf Lütgens spielt den alternden Callas-Fan Mendy traumhaft sicher in all seinen Gefühlsschwankungen.

Er hat sich im Innersten damit abgefunden, keinen Partner mehr zu finden und sich deshalb in die Traumwelt Oper zurückgezogen, wo er seiner extremen Callas-Hörigkeit frönen kann, die ihm Ekstase und Trost verheißt. Dieses Leiden an der Welt und der Hang zum Extremen, diese Mischung aus urbaner Dekadenz und milde lächelnder Melancholie macht Lütgens meisterhaft sichtbar: ob er um Zuneigung fleht, belehrt, leidet, sein Idol anbetet oder ironisch-sarkastisch wird.

Und singen kann er sowieso.

Thomas Braus steht ihm als Stephen in nichts nach. Er ist der Ästhet, der gouvernantenhaft bestimmt, welche Filme, Platten und Bücher Mike gefälligst konsumieren soll und welche Handtücher den Gästen angeboten werden.

Die offene Partnerschaft erweist sich allerdings als Illusion: Die Eifersucht lodert heftig in Stephen, als er Mike und Paul am Morgen antrifft. Bravourös bewältigt Braus die Gratwanderung zwischen dem abgebrühten, schlagfertigen Zyniker und dem einsamen Verzweifelten, voller Angst vor dem körperlichen Verfall.

Er wird Mendy immer ähnlicher, benutzt die Callas als Lebenshilfe und Projektionsfläche für unerfüllte Sehnsüchte und löst am Ende die Katastrophe aus. Lütgens und Braus zusammen spielen zu sehen, ist ein Genuss.

Weniger vielschichtig sind die Rollen von Mike (Luis Madsen) und Paul (Christian Becker) angelegt. Mike steht als gestresster Arzt mitten im Leben, spürt, dass es mit Stephen nicht mehr weiter geht, ist sich aber seiner Liebe zu Paul nicht sicher. Paul ist ein etwas unbedarfter Beau, der "Die Lissabonner Traviata" für einen Krimi wie den " Malteser Falken" hält, aber mit seinen körperlichen Reizen durchaus zu kokettieren weiß.

Callas-Fan McNally spielt auch auf den Narzissmus an, der seinen Protagonisten innewohnt. Der frühe Tod der Diva verstärkt die Legende und verbindet sie, wie Wayne Koestenbaum in seinem aufschlussreichen Artikel im Programmheft über den schwulen Callas-Kult schreibt, " mit Themen, die immer schwule Kultur überschattet haben: vorzeitiges Sterben, Flüchtigkeit, Einsamkeit".

Gefühlsintensität, Leidenschaft, Liebe: All das verkörpert die Callas für Stephen und Mendy, die sich mit Surrogaten wie Oper oder auch einem Hund über die Einsamkeit hinweghelfen, um die Magie des Augenblicks zu spüren, um dort zu sein, wo die Emotion sich über den Durchschnittspegel erhebt.

16.09.2000